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Die Stigmatisierung von Krankheiten ist ein gesellschaftliches Problem. Neben der Erkrankung selbst leiden Betroffene unter falschen Diagnosen, ausbleibenden Untersuchungen oder Unterbehandlung und mangelnde Unterstützung im privaten, gesundheitlichen und politischen Kontext.
Wenn Menschen andere aufgrund eines sichtbaren oder unsichtbaren Merkmals einer Gruppe zuordnen, der sie negative Eigenschaften zuschreiben, spricht man von Stigmatisierung. Ohne die andere Person individuell zu kennen, wird sie bereits negativ bewertet.
In einem interdisziplinären Workshop haben Vertreter:innen u.a. aus Betroffenen-Verbänden und Wissenschaft 10 Punkte identifiziert, durch die ein Wandel und Entdiskriminierung geschehen kann:
Förderung von Forschung und evidenzbasierten Ansätzen zum zielgerichteten Vorgehen gegen Stigmatisierung unter Zuhilfenahme von Indikatoren und Messinstrumenten für Monitoring & Outcome.
Erweiterung der Betrachtungsweise stigmatisierender Krankheiten weg von der reinen „Lifestyle“-Problematik, hin zur Anerkennung als Erkrankungen mit Komorbiditäten und dadurch Forcierung frühzeitiger, zielgerichteter Diagnostik und Behandlung.
Anstoßen eines gesellschaftlichen Diskurses über Stigmatisierung und Sprachgebrauch, Förderung einer Kultur des offenen Ansprechens und Vorleben einer entstigmatisierten und respektvollen Kommunikation.
Informationskampagnen und Aufklärungsinitiativen, die belastbare Fakten über Krankheitsbilder vermitteln und gesellschaftliche Tabus rund um Erkrankungen aktiv thematisieren – zielgruppenspezifische und ressourcenorientierte Ansprache dabei beachten.
Aufklärung und Sensibilisierung für Stigmatisierung bereits in Lehrplänen und pädagogischen Konzepten von Kita und Schule verankern und Pädagogikfachkräfte und Lehrer:innen dahingehend schulen.
Aus- und Weiterbildung im Gesundheitsbereich neu denken & gezielt implementieren, um eine stigmatisierungssensible Kommunikation in der patientenzentrierten Versorgung zu gewährleisten.
Förderung von Organisationen, Programmen und Initiativen, die Orte der Begegnung schaffen und Entstigmatisierung in verschiedenen Lebensbereichen auch durch die Schaffung von sicheren Räumen unterstützen.
Aktive Beteiligung von Betroffenen in Entscheidungs- und Planungsprozessen, bewusste Einbindung in Gremien und Berücksichtigung ihrer Expertise und Erfahrung bei der Entwicklung und Implementierung konkreter Maßnahmen.
Zusammenarbeit mit Vorbildern und Influencer:innen sowie Partnerschaft mit Medien, um gezielte Aufklärungsarbeit zu leisten, ein breites Bewusstsein für die Thematik zu schaffen und unterschiedliche Zielgruppen zu erreichen.
Stärkung von Selbsthilfegruppen, Mentor:innen und Patientenorganisationen, die Betroffene in ihrem Umgang mit Stigmatisierung unterstützen sowie gezielte Unterstützung von Initiativen, die Mut und Zivilcourage zur Entstigmatisierung fördern.
In drei initialen Workshops, die teilweise in Präsenz, teilweise online stattfanden, haben Vertreter:innen aus betroffenen Patientenorganisationen und Selbsthilfegruppen, Medizin und Wissenschaft sowie gesellschaftlichen Gruppierungen aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich gemeinsam Handlungsoptionen erarbeitet. In einem vierten Workshop wurden die entwickelten Thesen diskutiert und bewertet.
Das Ziel: Eine Klammer um die verschiedenen Aktivitäten zur Entstigmatisierung zu setzen.
Aufbau und Herangehen waren in den drei initialen Workshops identisch, jedoch gab es in Präsenz Kleingruppenarbeit, online hingegen Einzelinterviews. Dabei wurde in drei Schritten gearbeitet:
Wo müssen wir zuerst ansetzen, was sind wichtige Hebelpunkte?
Wie hoch wird das Bewusstsein für die jeweiligen Hebelpunkte in der deutschen Gesellschaft eingeschätzt? Und gibt es Rücken- oder Gegenwind für die jeweiligen Hebelpunkte?
Welche konkreten Maßnahmen und Ideen gibt es, wie wird ihre Wirksamkeit, sowie ihre Realisierbarkeit eingeschätzt und wie groß ist die Bereitschaft in der jeweiligen Gruppe, sich dafür selbst zu engagieren?
Die so in den Workshops 1 bis 3 herausgearbeiteten Thesen bewerteten die Teilnehmenden in einem vierten, interdisziplinären Workshop. Ideen und Ansätze wurden jeweils gesammelt und diskutiert, anschließend ein Ranking erstellt. Dies geschah mit dem Softwaretool Situation R® des Unternehmens FAS Research.
Mit dem Tool erfolgte eine digitale Analyse der wesentlichen Hebelpunkte, Handlungsoptionen wurden priorisiert und eine Roadmap entwickelt, um die Ziele zu erreichen. Die Teilnehmer:innen gaben dazu individuelle Bewertungen auf ihren digitalen Geräten ab, während die Software die Ergebnisse in Echtzeit konsolidierte, miteinander verglich und diese in Balkendiagrammen, Action-Maps oder Netzwerken visualisierte.
In den Workshops kristallisierten sich konkrete, wirksame und schnell umsetzbare Aktionen zur Bewältigung von Stigmatisierung durch Krankheit heraus: Intensiver Austausch mit Parlamentarier:innen und Aufklärung durch die BZgA mit dem Ziel, den Negativlisten-Paragrafen 34 SGB V zu revidieren.
Die heutige Fassung des Paragrafen entstand Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre und ist bis heute die Grundlage für die Erstattungspraxis der Krankenkassen. Die in den vergangenen zwei Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse über zum Beispiel die komplexen Regulationen des Stoffwechsels zwischen Gehirn und Verdauungsorganen, den daran beteiligten Rezeptoren und Botenstoffen werden darin nicht berücksichtigt. Medizinisch-wissenschaftliche Evidenz ist im Lifestyle-Paragrafen nicht abgebildet.
Gefordert wurden in den Workshops daher diese 3 Sofortmaßnahmen:
Mitglieder des Bundestags-Gesundheitsausschusses einladen und informieren
Aufklärungskampagne starten
Petition zur Revision des „Lifestyle“-Paragrafen 34 SGB V
Podcasterin „Let’s talk about cancer“
Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ), Jena
Patientennetzwerk ALKpositiv Deutschland
Caritasverband Berlin, [U25] Online-Suizidprävention
Deutscher Psoriasis Bund e.V.
TU Dortmund, Fakultät Rehabiltationswissen-schaften
Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.
Malteser Hilfsdienst e.V. Berlin, Leitung Wirkungsmanagement und Partnerships
Adipositas Verband Deutschland e.V.
SHG Leukämie- und Lymphompatienten Halle
Netzwerk für Autoimmunerkrankte – NIK e.V.
AfB gGmbH (Arbeit für Menschen mit Behinderung)
Berufsverband Deutscher Psychologinnen
und Psychologen e.V.
Psychiatrische Universitätsklinik der Charité
im St. Hedwig-Krankenhaus
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Zentrum fürPsychosoziale Medizin, Institut für Versorgungsforschung
in der Dermatologie und bei Pflegeberufen
Hochschule Fresenius für Wirtschaft und Medien GmbH
Dermatologische Privatpraxis Ahaus,
Projekt „In meiner Haut“ (ECHT)
Interessengemeinschaft Sichelzellkrankheit und Thalassämie e.V.
Caritasverband Berlin, Leiter Arztmobil,
Wohnungslosenhilfe
Deutsche Fibromyalgie Vereinigung e.V.
Charité Universitätsmedizin Berlin, Vizepräsidentin der
Deutschen Adipositas Gesellschaft
AdipositasHilfe Deutschland e.V.
Unsere Gesellschaft ist sensibler geworden für die Stigmatisierung einzelner Gruppen. Das beobachtet der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Professor Dr. Matthias Hastall. Er forscht unter anderem zu Gesundheitskommunikation, Anti-Stigma- und Teilhabekommunikation.
Stigmatisierung kann krank machen. Darauf verweist die Psychologin Dr. Janine Dieckmann vom Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. Sie forscht dort zu Diversität, Engagement und Diskriminierung.
Die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen kann dazu führen, dass Menschen zu spät in Behandlung kommen. Mit einem Ersthelfer-Programm für Laien soll nun in Deutschland etwas dagegen getan werden. Prof. (apl.) Dr. med. Michael Deuschle, Leitender Oberarzt am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, rollt es derzeit mit aus.
Manchmal ist es schwerer, mit den Vorurteilen zu einer Erkrankung zu leben, als mit der Erkrankung selbst. Bettina Lutz, Lead Inflammation & Immunology Therapeutic, über Krankheits-Stigmata.
Gemeinsam mit dem Wissenschaftsverlag Springer Medizin hat Pfizer die Initiative „Gemeinsam Handeln - Damit Krankheit kein Stigma bleibt“ ins Leben gerufen. Die Initiative hat zum Ziel, einen aktiven Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs und zur Entstigmatisierung beizutragen. Die Ergebnisse der Workshops finden Sie in dieser Broschüre als PDF zum Download.
Ein negatives Vorurteil zu hegen, heißt nicht automatisch, andere schlechter zu behandeln. Man kann innerlich ein bestimmtes Stigma vergeben („Der ist neurotisch“), aber trotzdem neutral bzw. ausgewogen im Umgang sein.
Wenn ein gedankliches Vorurteil zu benachteiligendem Verhalten oder institutionellen Entscheidungen führt, ist es Diskriminierung. Wenn beispielsweise ein Wohnungsbewerber abgelehnt wird, weil er eine sichtbare Hautkrankheit hat. Oder wenn ein junger Erwachsener mit Krebs trotz fachlicher Eignung nicht befördert wird.
Diskriminierung heißt also, dass eine Person bewusst oder unbewusst ihr Verhalten nach inneren Vorurteilen ausrichtet und eine andere dadurch benachteiligt.
Diskriminierung kann von Individuen ausgehen, von der Öffentlichkeit oder institutionell bedingt sein durch die Normen und Werte bestimmter Institutionen bzw. gesellschaftlicher Teilbereiche, wie das Rechtssystem, die Arbeitswelt oder das Gesundheitssystem. Die Ebenen greifen meist ineinander.
Institutionelle Diskriminierung heißt, dass die Regeln und Abläufe in Institutionen der jeweiligen Bereiche (Gesundheit, Arbeit, Recht, …) bestimmte Personen benachteiligen oder gefährden. Das kann absichtlich oder unabsichtlich geschehen, auch ohne, dass sich Einzelne diskriminierend verhalten.
Schlägt sich institutionelle Diskriminierung in der Ungleichbehandlung oder gesundheitlicher Unterversorgung ganzer gesellschaftlicher Teilgruppen aus, spricht man auch von struktureller Diskriminierung: So ist beispielsweise die Unterfinanzierung der Versorgung bestimmter Erkrankungen im Vergleich zu anderen eine strukturelle Diskriminierung. Oder, wenn Medizin sich am Modell „Mann“ orientiert, statt Gendermedizin zu beachten. Oder, wenn Menschen nicht gleichermaßen Zugang zu Prävention haben.
Auch die Diskriminierung durch ein Rechtssystem kann negative Gesundheitsfolgen haben, wie folgendes Beispiel zeigt: Nachdem in den USA gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt worden sind, sank die Zahl der Depressionen oder das Vorkommen von Bluthochdruck bei schwulen und bisexuellen Männern.
Selbststigma entsteht, wenn Menschen Vorurteile über ihre eigene „Gruppe“ gegen sich selbst wenden. Es ist sozusagen die Internalisierung gesellschaftlicher und gelernter Vorurteile, man fühlt sich beispielsweise Schuld an der eigenen Depression. Selbststigmatisierung senkt das Selbstwertgefühl, sie kann zu Scham, sozialer Isolation und Demoralisierung führen – eine Negativschleife, aus der man nur schwer herauskommt.
Auch kann Selbststigmatisierung dazu führen, dass man keine Transferleistungen oder zu spät ärztliche Hilfe in Anspruch nimmt. Bei psychischen Erkrankungen ist es auch ein Risikofaktor für Suizidalität, wie Studien mittlerweile zeigen.