Von einer Stillen Pandemie ist die Rede, wenn die WHO Antibiotikaresistenzen als eine der größten Herausforderungen für unsere Gesundheitssysteme bezeichnet. Dr. Irit Nachtigall, Regionalleiterin für Infektiologie und Antibiotic Stewardship an den Helios-Kliniken in der Region Ost sowie Fachgruppenleitung Infektiologie, trifft Caroline Schweizer, Senior Medical Affairs Scientist bei Pfizer.
Ihr Thema: eines der größten Probleme der modernen Medizin, die sogenannten antimikrobiellen Resistenzen (AMR). Ihr Thema: eines der größten Probleme der modernen Medizin, die sogenannten antimikrobiellen Resistenzen (AMR).
Caroline Schweizer: Viele Menschen nehmen Antibiotikaresistenzen, ähnlich wie den Klimawandel, nur als latent bedrohlich wahr, anstatt als akut gefährlich. Anders Covid-19, das den Menschen allein schon durch die vielen Tests im Bewusstsein ist.
Und der Punkt ist: Gegen SARS-CoV-2 kann man sich mit Impfstoffen schützen oder es mit Medikamenten behandeln. Anders bei Antibiotika: Wenn sie nicht mehr wirksam sind, dann haben wir ein großes Problem.
Dr. Irit Nachtigall: Genau, das Problem der Antibiotikaresistenzen ist viel leiser als das der Corona-Viren, deshalb das „still“ in „Stille Pandemie“. Man kann mit diesen Erregern besiedelt sein, ohne es zu merken, und bei geschwächtem Immunsystem dann eine Infektion bekommen und schwer krank werden.
Sie glauben gar nicht, wo überall resistente Bakterien lauern, zum Beispiel am Seifenspender auf dem Flughafen. Sie denken, Sie haben sich die Hände gewaschen, aber kommen mit einem multiresistenten Erreger nach Hause.
Nachtigall: Uns bereiten verschiedene Bakterienarten mit ihren zahlreichen Unterformen Probleme. Derzeit sind es vor allem die sogenannten multiresistenten gramnegativen Bakterien mit ganz flexiblen Resistenzmechanismen, die sie sogar untereinander durch Genaustausch weitergeben.
Sie verursachen beispielsweise Lungenentzündungen, Harnwegsinfektionen, Wundinfektionen oder Blutvergiftungen. Aber auch bei anderen Erregern wie dem Staphylococcus aureus oder den Enterokokken kommen Resistenzen vor. Die WHO hat eine Liste mit zwölf Erregern erstellt und sie nach der Dringlichkeit für die Entwicklung von neuen Antibiotika eingeteilt.
Die oberste Priorität haben dabei Carbapenemresistente Acinetobacter baumannii, Carbapenemresistente Pseudomonas aeruginosa und Enterobacteriaceae, die Resistenzen gegen Carbapeneme sowie Cephalosporine der dritten Generation aufweisen.
Beide: Ja.
Nachtigall: Das ist hierzulande allerdings ein relativ seltenes Ereignis. Laut Robert Koch Institut sind es jährlich bis zu 9.700 Menschen. Aber deshalb dürfen wir uns nicht zurücklehnen: Wir müssen jetzt handeln, damit wir nicht in eine Lage kommen wie viele andere Länder.
Schweizer: In Griechenland sind bis zu 80 Prozent der auf Intensivstationen nachgewiesenen Acinetobacter baumannii resistent gegen Carbapeneme, die auch bereits als Reserveantibiotika gelten. Heißt: Es gibt im Falle einer Infektion fast gar keine wirksamen Therapieoptionen mehr.
Nachtigall: Diese 80 Prozent carbapenemresistenten Acinetobacter gehören zu der Gruppe, die wir als 4MRGN bezeichnen: Wir unterscheiden in der Klinik vier Antibiotikagruppen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit gegen gramnegative Bakterien: Ist ein Bakterium gegen drei dieser Klassen resistent, ist es ein 3MRGN (MultiResistente GramNegative). Sind es vier Antibiotikaklassen, dann heißt das 4MRGN, und hier wird es schwierig mit der Behandlung.
Schweizer: Auch in Spanien, Italien oder Griechenland konnten Patient:innen viele Jahre lang Antibiotika ohne Rezept bekommen.
Nachtigall: Das Problem ist, dass viele Menschen glauben, sie würden durch Antibiotika keimfrei werden. Selbst manche Ärzt:innen glauben das. Das stimmt natürlich nicht. Wenn Sie Antibiotika nehmen, dann sterben die empfindlichen Bakterien und übrig bleiben die resistenten, und die können sich dann, ungebremst durch die sensiblen Erreger, besser ausbreiten.
Schweizer: Eine Resistenz entsteht ja eher zufällig durch eine Mutation: Jede:r von uns kann ein mutiertes Bakterium in sich tragen. Wenn wir dann bei einer Infektion mit einem Antibiotikum behandelt werden, kann es passieren, dass die empfindlichen Bakterien verschwinden und sich die mutierten als resistent erweisen. Sie bleiben und können sich – da die empfindlichen alle weg sind – nun sehr schnell vermehren.
Nachtigall: Es dauert ein halbes bis ein Jahr, bis die empfindlichen Bakterien zurückgekommen sind. Aber die Menschen denken, sie seien wieder völlig gesund. Solche Entwicklungen sind in der Bakterienwelt übrigens normal. Die Frage ist einfach: Wie leicht machen wir es ihnen?
Schweizer: Für Bakterien bedeutet es einen Überlebensvorteil, wenn sie resistent werden. Das passiert immer dann, wenn wir Druck ausüben. Sprich: wenn wir zu häufig oder zu un-kritisch Antibiotika einsetzen. Dann bleiben eben die widerstandsfähigsten Bakterien übrig und breiten sich aus.
Nachtigall: In Deutschland ist es immer noch keine Pflicht, dass jede Klinik eine verantwortliche Person benennt, die die Verabreichung von Antiinfektiva überwacht. Das wird nur empfohlen. Während wir für Hygiene gesetzliche Vorgaben haben, belassen wir es beim verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika bei Empfehlungen. Ärzt:innen sollen die Antibiotikavergabe einfach so „mitmachen“. Stellen Sie sich mal vor, wir hätten diese Haltung bei einer Chemotherapie …
Schweizer: Auch die zentrale Überwachung von Antibiotikaverbrauch und Resistenzentwicklung in Kliniken ist in Deutschland bislang freiwillig.
Nachtigall: Nur 30 Prozent der Kliniken machen bei dieser Antibiotika-Surveillance mit, vermutlich diejenigen, denen das Problem bewusst ist. Heißt im Umkehrschluss: Die ganz „Schlimmen“ sind womöglich nicht dabei.
Außerdem ist es ein eigenes Fachgebiet, die Erreger zu verstehen. Wir brauchen viel mehr Mikrobiolog:innen, aber gerade die klinisch ausgebildeten Mikrobiolog:innen sind in Deutschland eher Mangelware.
Nachtigall: Patient:innen und Ärzt:innen zu richtigem Verhalten anhalten, sprich: Hände desinfizieren. Schon bei der Aufnahme klären, wen man auf multiresistente Erreger testen sollte. Dafür genügen ein paar Fragen: Waren Sie in jüngster Zeit im Ausland? Arbeiten Sie in der Landwirtschaft? Haben Sie vor Kurzem Antibiotika genommen? Waren Sie jüngst im Krankenhaus?
An unseren Kliniken gibt es eine entsprechende Frageliste, und wenn nur eine mit Ja beantwortet wird, dann testen und isolieren wir den Patienten oder die Patientin, bis das Ergebnis vorliegt.
Nachtigall: Wir müssen in der Tierhaltung anfangen. Wenn ein Huhn in der Massentierhaltung hustet, kriegt der ganze Stall Antibiotika, das ist verheerend.
Schweizer: Antibiotika werden ja sogar schon zu Mastzwecken verabreicht.
Nachtigall: Außerdem ist Alltagshygiene das A und O. Wie wir in der Küche mit unseren Lebensmitteln umgehen. Dass wir auf dem Brettchen, auf dem rohes Fleisch geschnitten wurde, nicht danach das Gemüse schnippeln. Auch können wir Fleisch und Fisch aus Massentierhaltung vermeiden, weil die Aufzucht von Tieren mit Antibiotika die Resistenz weiter befeuert. Auch Impfungen helfen gegen Antibiotikaresistenzen, weil sie dafür sorgen, dass es erst gar nicht zum Antibiotikaeinsatz zu kommen. Denn sogar, wenn man gegen virale Erkrankungen impft, reduziert man den Antibiotikaeinsatz, denn virale Erkrankungen können sich superinfizieren mit Bakterien, und dann ist wieder der Einsatz von Antibiotika nötig. Das haben wir gerade in der Corona-Pandemie deutlich gesehen. Außerdem müssen wir neue Antibiotika entwickeln.
Schweizer: Es nutzt allerdings wenig, einfach nur neue Antibiotika in den Markt zu bringen, wenn die jetzigen nicht mehr wirken.
Nachtigall: Ja, das wäre wie Wasser in löchrige Eimer zu gießen.
Schweizer: Wenn man neue Antibiotika genauso einsetzt wie die bisherigen, dann hat man nichts gewonnen. Neue Antibiotika muss man bewahren.
Schweizer: Ja. Aber zu wenige. Zum einen ist das Feld der Antibiotikaforschung schon weitge-hend abgegrast und es ist schwierig, noch neue Angriffspunkte am Bakterium zu finden. Zum anderen brauchen wir nun just jene Antibiotika, die gegen hochresistente Bakterien wirken und deshalb möglichst selten verabreicht werden sollten, damit sie nicht auch wieder schnell an Wirkung verlieren. Wenn Sie bedenken, dass man rund eine Milliarde US-Dollar für ein neues Antibiotikum investieren muss, und dann kommt es in den Schrank und wird nur selten verwendet, dann ist klar, dass das heutige Geschäftsmodell nicht dazu passt. Man kann die Entwicklungskosten nicht mehr über den Verkauf des Präparats reinholen.
Schweizer: Neben anderen Erstattungsmodellen könnte auch die Zusammenarbeit von öffent-lich und privat geförderter Forschung helfen. Ein Beispiel dafür ist der Aktionsfonds gegen antimikrobielle Resistenzen, der AMR Action Fund. Mehr als 20 pharmazeutische Unternehmen, Stiftungen und die europäische Entwicklungsbank haben sich dabei zusammengeschlossen mit dem Ziel, mit fast einer Milliarde US-Dollar die Entwicklung neuer Antibiotika voranzutreiben und kleinere Biotech-Unternehmen in diesem Bereich zu unterstützen. Pfizer beteiligt sich mit 100 Millionen US-Dollar.
Nachtigall: Neben der schon genannten Alltagshygiene und den Ernährungsgewohnheiten sollten wir uns bei einer Erkältung ins Bett legen und uns klar machen, dass wir nicht so schnell wieder gesund werden müssen. Viele Leute glauben fest daran, dass sie selbst bei einer banalen Erkältung mit Antibiotika wieder schneller auf die Füße kommen. Die meisten Antibiotikarezepte werden am Freitagnachmittag ausgestellt. Die Menschen haben Sorge, es nicht ohne übers Wochenende zu schaffen. Es gibt da eine tolle Initiative von den Kolleg:innen an der Charité: Patient:innen erhalten ein „Infozept“ mit ganz vielen Tipps, wie mit den Infektionen umzugehen ist, und sie erhalten ein vorsorgliches Ondemand-Rezept, das sie einlösen können, wenn es wirklich schlechter geworden ist. Wir müssen sehr viel mehr mit den Patient:innen reden. Sie sind nicht gut aufgeklärt. Viele denken noch immer: „Mit einem Antibiotikum werde ich schneller gesund.“